Die Frau im Kofferraum

Bei der Frau im Kofferraum handelte es sich um Renate E. Der eigentlichen Flucht von Familie E. ging ein langer Entscheidungsprozess voran, wie sich Frau E. erinnert, deren Mann Andreas vor einigen Jahren verstorben ist. Ihr Mann hätte eigentlich immer in den Westen gewollt, hatte aber den richtigen Zeitpunkt verpasst, da er im Jahr des Mauerbaus gerade sein Abitur machte. Für sie beide hatten 1966 geheiratet stand eine Flucht dann lange Zeit nicht zur Debatte. "Ich war mit unserem Leben zufrieden. Wir hatten studiert, wir hatten eine Wohnung, wir hatten ein Segelboot, wir hatten Arbeit. Uns ging es gut."

Doch mit der Geburt ihres Sohnes Jost veränderte sich etwas. Je älter der Sohn wurde, desto drängender wurde die Frage nach seiner Zukunft in der DDR. "Wir wollten, dass er alle Möglichkeiten hat, dass ihm die Welt offensteht. Er sollte nicht so eingekesselt leben müssen wie wir."

Zeitgleich dünnte sich der Freundeskreis von Familie E. aus. Einige wurden wegen des Besitzes verbotener Bücher verhaftet, andere suchten ihr Heil in der Flucht. "Hier hauten welche ab, dort hauten welche ab. Es wurden weniger und weniger und man fühlte sich richtig im Stich gelassen." Die Überwachung nahm zu und damit die Unsicherheit. "Wir wussten, dass unser Telefon und unsere Post komplett überwacht wurden." Bekannte warnten die Familie wegen des Besitzes verbotener Bücher, wie zum Beispiel George Orwells "Farm der Tiere". Renate E. wurde einen ganzen Tag lang von der Stasi vernommen, nachdem Freunde geflüchtet waren. "Ab dann bekamen wir wirklich richtig Panik. Ich konnte nicht mehr schlafen. Wenn abends oder nachts eine Autotür zugeschlagen wurde, habe ich immer gedacht: Jetzt kommt die Staatssicherheit."

Das immer tiefere Eindringen des Staates in die Privatsphäre und die Sorge um die Zukunft des Sohnes erzeugten schließlich einen so großen Druck, dass das Risiko der Flucht akzeptabel erschien.

Organisiert wurde die Flucht vom Schwager, der viele Jahre zuvor durch einen Tunnel in den Westen geflohen war, und der Schwester, die schon lange im Westen lebte. Familie E. wandte sich mangels Alternativen an die Verwandten im Westen. Sie wollten einen Fluchtweg, bei dem nicht geschossen wurde, bei dem man nicht über die Grenze rennen oder über eine Mauer klettern musste. "Wichtig war uns auch, dass wir alle drei gemeinsam flüchten, denn wir hätten das nervlich nicht ausgehalten, getrennt zu werden."

Der Schwager nahm Kontakt mit Freunden auf, die vorher geflohen waren, und kam so auf das Fluchthelfer-Netzwerk Norbert Franzke, der die Flucht von DDR-Bürgern als lukratives Geschäft betrieb.

Die Details der Flucht kannte die Familie zu keinem Zeitpunkt. Den Treffpunkt erfuhren sie nur wenige Tage vorher bei einem Besuch des Schwagers. Auf einem gemeinsamen Spaziergang teilte der mit: "11. Juli. 22:30 Uhr. Stellplatz Bossestraße. Nahe dem Bahnhof Ostkreuz. Erkennungszeichen: eine weiße Plastiktüte."

Als die Flucht schließlich feststand, verbrannte die Familie alle Adressbücher, damit über die Namen keine Verbindungen zu Verwandten und Freunden hergestellt werden konnten. Bereits zuvor hatte die studierte Chemikerin Renate E. auf ihrer Arbeit in einem pharmazeutischen Unternehmen ein Beruhigungsmittel organisiert. "Ich habe ein paar Wochen vorher verschiedene Tabletten durchprobiert. Welche beruhigen, aber den Kopf frei lassen. Schließlich hatte ich eine gefunden."

Eine größere Herausforderung bestand darin, so Frau E., das Erkennungszeichen für den Fluchthelfer eine weiße Plastiktüte zu organisieren. In der DDR gab es so etwas eigentlich nicht. Sie erinnert sich, dass es ein ungeheurer Aufwand war, die Plastiktüte zu besorgen. Wie es am Schluss gelungen ist, daran kann sie sich nicht mehr erinnern.

In die weiße Plastiktüte packte die Familie am Abend der Flucht ihre Diplome, die Promotionsurkunde des Mannes, die Geburtsurkunden und alle anderen amtliche Dokumente. Außerdem das Lieblingsstofftier des damals 13-jährigen Sohnes, einen gerade gekauften Bikini und ein Trinkglas, das für die Familie eine besondere Bedeutung hatte. Zuletzt noch eine Kamera, mit der sie vor der Flucht Bilder in ihrer Wohnung geschossen hatten. Als Andenken.

Parkplatz Ostkreuz Familie E. in der Wohnung in Ost-Berlin, wenige Tage vor der Flucht. Foto: Renate E.

Um eine plausible Erklärung für die abendliche Abwesenheit gegenüber den Freunden und der Familie zu haben, besorgte sich Familie E. für den Fluchtabend Theaterkarten. Berliner Ensemble, "Schweyk im Zweiten Weltkrieg".

"Als es dann losging, haben wir unserem Sohn gesagt: Stell heute keine Fragen und mach einfach alles, was wir dir sagen. Wir haben etwas ganz Tolles vor. Überraschung. Überraschung." Im Theater setzte sich die Familie ganz an den Rand. Sobald das Licht gelöscht wurde, gaben sie dem Sohn die Beruhigungstabletten und schluckten selbst welche. In der Pause verließen sie das Theater am Schiffbauerdamm und fuhren mit dem Auto zum Alex. Das Auto ließen sie auf einem großen Parkplatz stehen, damit es nicht so schnell gefunden werden konnte.

Noch auf dem Alex eröffneten die Eltern ihrem Sohn Jost, was sie vorhatten. Er bekam Panik. "Nein, ich will nicht rüber!", schrie er. "Meine Katze! Meine Freunde! Das geht nicht!" Zum Glück war der Platz leer, denn es hatte geregnet.

"Dann haben wir Druck aufgebaut. Wenn du jetzt nicht mitziehst, haben wir gesagt, dann landet dein Vater im Gefängnis. Schließlich hat er eingewilligt, und er hatte ja auch keine Wahl gegen Eltern, die fest entschlossen waren."

Sie fuhren zum Treffpunkt und warteten. "Und dann standen wir da. Ab diesem Moment war es eigentlich nur noch Funktionieren. Ich kann mich eigentlich auch nicht an irgendein Gefühl erinnern. Nicht an Angst, nicht an Aufregung, sondern man trottet so dahin." Nachdem das Codewort gesagt wurde, stiegen zuerst Frau E., dann ihr Sohn und zuletzt ihr Mann in den Kofferraum. "Ich hatte mich so gelegt, dass ich meinem Sohn die Hand auf den Mund pressen kann, falls der anfängt zu schreien, wenn etwas passieren sollte. Aber der war ganz benebelt oder aufgeregt. Da passierte gar nichts. Dann: Klappe zu und los."

Die Flucht gelang. Mit den 20 Pfennig, die der Fahrer Familie E. in die Hand gedrückt hatte, riefen sie von einer Telefonzelle aus einen Freund aus Westberlin an. Der holte die Familie ab und versteckte sie für zwei Tage, damit der Fluchtzeitpunkt durch die Stasi nicht so leicht nachvollzogen und mögliche Fahrzeuge nicht identifiziert werden konnten. "Es gab da unsere erste West-Zahnbürste und dann haben wir Faber-Sekt getrunken. Der war damals in Mode. Wir haben nur dagesessen, uns gefreut und geheult. Es war eine große Erleichterung."

Einige Tage nach der Flucht besuchte Familie E. das Brandenburger Tor von der anderen Seite und schoss ein Bild mit der Kamera, mit der sie noch einige Tage zuvor Aufnahmen in ihrer Ost-Berliner Wohnung gemacht hatte.

Parkplatz Ostkreuz Familie E. in West-Berlin, wenige Tage nach der Flucht. Foto: Renate E.

Familie E. fing in Westdeutschland ein neues Leben an. Sie hatten bald ihre Schulden abgearbeitet und konnten schon wenige Jahre nach der Flucht ein eigenes Haus bauen. Bis heute bedankt sich der Sohn am 11. Juli dem Jahrestag der Flucht bei seinen Eltern, per Brief oder SMS.

© Rodion Ebbighausen 2021