Der Fahrer

Der Fahrer am Steuer des Fluchtfahrzeugs war Leonard Vum Ko Hau, ein Promotionsstudent aus Birma mit wohnhaft in Prag.

Für den Sohn eines Diplomaten war es bereits die sechste Fluchthilfe.

Die erste Fluchthilfe lag vier Jahre zurück. Damals hatte Vum Ko Hau die Verlobte eines birmanischen Landsmannes nach Westberlin gebracht. Der befreundete Birmane wollte eine Bürgerin der DDR heiraten. Aber die Behörden, die einer solchen Hochzeit zustimmen mussten, verweigerten eine Eheschließung ohne Angabe von Gründen. Schließlich sah das junge Paar keinen anderen Ausweg als in den Westen zu flüchten. Sie wussten von Vum Ko Haus Beziehungen zur Botschaft und boten ihm 5000 Deutsche Mark an. Der freute sich über das zusätzliche Einkommen, nutzte seinen Diplomatenpass und riskierte die Fluchthilfe. Mit Erfolg.

Professionell wurden die Schleusungen allerdings erst, als Vum Ko Hau über einen Freund, den Birmanen Maung Tin Htut, Kontakt zu einem Fluchthelfer-Netzwerk in Westberlin bekam.

Parkplatz Ostkreuz Silvesterfeier in Prag 1980. Erste Reihe dritter von links: Vum Ko Hau. Hinten stehend: Maung Tin Htut. Foto: Vum Ko Hau

Das Netzwerk um den ehemaligen DDR-Bürger Norbert Franzke hatte sich auf die Flucht mit Hilfe von Diplomaten spezialisiert.

Seit dem Mauerbau 1961 war die Flucht aus der DDR stetig schwieriger geworden. Die Stasi hatte ein immer engmaschigeres Netz geknüpft, um sogenannte Republikflüchtlinge bereits im Vorfeld zu identifizieren. Nach und nach schloss sie sämtliche Fluchtwege, etwa mit Hilfe gefälschter Papiere oder über das Ausland.

1975 schuf die Stasi auf Anweisung von Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit der DDR, die "Zentrale Koordinierungsgruppe Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung", die 1989 fast 450 Mitarbeiter hatte. Ein stetiges Katz-und-Maus-Spiel begann, das immer raffiniertere Fluchtmethoden erforderlich machte. Ende der 1970er Jahre waren fast alle Möglichkeiten verbaut. Gelegentlich machten spektakuläre Fluchtversuche mit einem Ballon oder einem U-Boot Schlagzeilen. Viele endeten im Gefängnis oder mit dem Tod.

Ausriss Stasiakte Kurz vor dem Mauerbau 1961 waren die Zahlen der sogenannten Republikflüchtlinge sehr hoch, wie eine Auswertung der Stasi belegt. Die Stasi vermerkte dazu außerdem: "Besonders beachtlich ist dabei die seit März 1960 ansteigende Zahl der Republikfluchten aus den Kreisen der zur Intelligenz zählenden Berufsgruppen […]." Quelle: BStU, MfS, AS, Nr. 109/65, Bd. 2, BL 68

Angesichts der immer schwierigeren Lage entstanden vereinzelte Netzwerke von Fluchthelfern. Eines davon war das Netzwerk Franzke.

Norbert Franzke, der im Selbstverlag ein Buch über seine eigene Flucht und seine kriminelle Karriere als Schmuggler und Hehler veröffentlicht hat, organisierte die Flucht mit Hilfe von Diplomaten einer der letzten erfolgversprechenden Wege in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren. Dabei verdiente Franzke gutes Geld, ohne viel Verantwortung zu übernehmen. In seinem Buch schreibt er über die Fluchthilfe: "Eine Flucht auf diese Weise [mit Diplomaten] ist einfach, solange die Leute das tun, was man ihnen sagt. Sie hat absolut nichts Spektakuläres an sich. Die Gefahren für ein Misslingen liegen einzig und allein bei den Beteiligten. Wenn eine der Parteien von der Stasi beschattet wird, dann hat das selbstverständlich fatale Konsequenzen. […] Ansonsten sind die Chancen aber sehr gering, dass bei der nur wenige Minuten dauernde Fahrt zur und über die Grenze etwas schiefläuft." (Norbert Franzke: Ein Berliner in West und Ost: Flucht, Fluchthilfe, Staatssicherheit, CreateSpace Independent Publishing Platform 2016) Was Franzke nicht ahnte: Seine Organisation war es, die beschattet wurde. Die Stasi hatte in den Reihen seines Netzwerks im Westen einen sogenannten Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) mit Decknamen "Karl" platziert.

Heute lebt Franzke in Bangkok. Der 76-jährige (Jahrgang 1943) vermietet einen Segel-Schoner für Ausflüge. Interviewanfragen blieben unbeantwortet.

Als der Kontakt über Tin Htut zwischen Franzke und Vum Ko Hau hergestellt war, wurde Vum Ko Hau zuerst nach Weiden in Westdeutschland geschickt. Dort gab es eine Mercedes-Werkstatt, die für die Wartung und Reparatur von Fahrzeugen der diplomatischen Vertretungen in Mittel- und Osteuropa zuständig war. Die Kfz-Mechaniker bauten einen sogenannten Niveauregulator ein, mit dessen Hilfe sich die Stoßdämpfer einstellen ließen. Bei großer Zuladung etwa von drei Personen konnte der Fahrer auf Knopfdruck den Druck in den pneumatischen Stoßdämpfern erhöhen, sodass nicht auf den ersten Blick zu erkennen war, dass das Auto schwer beladen war. Neben den technischen Vorbereitungen instruierte Tin Htut seinen Freund Vum Ko Hau über den Ablauf der Schleusungen und übergab ihm eine Lageskizze von Treffpunkten in der Nähe des Berliner Bahnhofs Ostkreuz und einen Stadtplan von Berlin.

So vorbereitet kehrte Vum Ko Hau nach Prag zurück, wo er auf grünes Licht durch seinen Kontaktmann Tin Htut wartete. Bei regelmäßigen Telefonaten erkundigte sich Vum Ko Hau nach dem Wetter in Berlin. Wenn Tin Htut antwortete, dass es schön werde, wusste Vum Ko Hau, dass eine Schleusung bevorstand, wie beispielsweise im Juli 1980 als Familie E. ihre Flucht in den Westen antrat.

Vum Ko Hau, der sich in der Tschechoslowakei hin und wieder ein kleines Zubrot mit dem Weiterverkauf von Waren aus dem diplomatischen Markt verdient hatte, ging es ums Geld. "Ich bin kein Engel. Ich habe die DDR-Bürger nicht aus ideologischen Gründen, sondern für den finanziellen Vorteil ausgeschleust." Das war der erste Satz, den er beim ersten Treffen für die Recherchen zu dieser Reportage äußerte.

Nach gelungener Flucht erhielt Vum Ko Hau von Tin Htut 10.000 Deutsche Mark. Er wurde pro Fahrt bezahlt. Franzke ließ sich demgegenüber pro Person bezahlen. Der Tarif lag in der Regel bei 30.000 DM. Im Falle der Familie E. flossen demnach 90.000 DM an Franzke und davon 10.000 DM an Vum Ko Hau. Wie viel Geld der Vermittler Tin Htut erhielt, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Allerdings gab Tin Htut später im Stasi-Verhör zu, einen größeren Anteil als vereinbart für sich behalten zu haben. Er erklärte außerdem, dass er den direkten Kontakt von Vum Ko Hau zu Franzke verhindert habe, da er sonst überflüssig geworden wäre. "[Die] Freundschaft [mit Vum Ko Hau] habe ich ausgenutzt. Brauchte Geld, wollte Haus kaufen oder Laden aufmachen." (Den Laden hat Tin Htut dann später tatsächlich eröffnet, wie die Geschichte "Der Mann aus der Reisschale" des Berliner Tagesspiegel belegt.)

Vum Ko Hau, der heute weniger Interesse an materiellen Gütern hat und überzeugter Christ ist, hält die Fluchthilfe bis heute nicht für ein Verbrechen. "Ich habe damals in der Tschechoslowakei promoviert, und das war ja sehr ähnlich mit der DDR. Alle meine Bekannten und Kommilitonen waren mit dem System unzufrieden. Ich meine, es gab natürlich keinen Hunger, aber überall herrschte Mangel an Konsumgütern. Wenn die Leute also das Land verlassen wollten und ich ihnen dabei helfen konnte, dann fand und finde ich das nicht verkehrt." Als sich die Gelegenheit für das zusätzliche Einkommen bot, zögerte er nicht. Das Risiko nahm er auf sich. "Ich hatte keine Angst. Mein Landsmann und Auftraggeber [Tin Htut] hat immer gesagt: Du musst keine Angst haben. Wenn etwas schiefgeht, bist du innerhalb von 24 Stunden wieder draußen. Deshalb hatte ich keine Angst." Vum Ko Hau lacht heute, wenn er das sagt.

Insgesamt neun Mal gelang die Flucht im Auftrag des Netzwerk Frankzke. Wenn man die Fluchten ohne das Netzwerk hinzurechnet, hat Vum Ko Hau mehr als 33 Personen erfolgreich aus der DDR ausgeschleust.

Doch der Stasi war es gelungen, im Westen den IM "Karl" in das Netzwerk einzuschleusen. Der hatte bereits Hinweise auf die Schleusungsaktivitäten gegeben. In einem Eröffnungsbericht der Hauptabteilung VI, Operative Dienststelle Berlin vom 20.02.1981 lässt sich nachlesen:

Auf der Grundlage inoffizieller Hinweise konnte herausgearbeitet werden, daß der z.Zt. in Prag wohnhafte burmesische Diplomat VUM KO HAU unter dem dringenden Verdacht steht, Personenschleusungen nach Berlin (West) durchgeführt zu haben.
[…]
Aufgrund der Analyse erscheint es notwendig, VUM KO HAU bei seinen Reisen im spezifischen Transit von der BRD nach Berlin (West) und zurück sowie während seines Aufenthalts in der Hauptstadt der DDR durch Kräfte der Hauptabteilung VIII zu beobachten, um Anlaufstellen zu erarbeiten bzw. den Nachweis zu erbringen, daß VUM KO HAU seinen Status ausnutzt, Bürger der DDR nach Berlin (West) oder der BRD, versteckt im Kofferraum seines PKW, auszuschleusen.
Die Zielstellung der operativen Bearbeitung besteht darin, den burmesischen Diplomaten auf frischer Tat gemäß § 105 StGB zu stellen, die kriminelle Menschenhändlerbande[,] für die er tätig ist, bekannt zu machen, sowie dabei angewandte Mittel und Methoden aufzudecken.

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