Marita Ulbricht

Für Marita Ulbricht stand immer schon fest, dass sie weg wollte. Sie erzählt: "Ich bin in keiner Kommunisten-Familie groß geworden. Ganz im Gegenteil. Wir haben nur RIAS Berlin gehört. Dieses ganze Sozialisten-Gesäusel, das war für mich …", sie macht nur eine wegwerfende Handbewegung. "Mein Plan war: Lehre beenden, ein bisschen Praxis im Beruf sammeln und dann irgendwann mit der S-Bahn nach Westberlin. Und dann kam die Mauer dazwischen."

Parkplatz Ostkreuz Gepanzerter Wasserwerfer G5 SK-2 (Sonderkraftfahrzeug 2) im August 1961 am Brandenburger Tor. Foto: Bundesarchiv, Bild 173-1282 / Helmut J. Wolf

Nach dem Mauerbau 1961 arrangierte sich Marita Ulbricht vorerst mit der Lage und arbeitete als Sekretärin in der Charité. Dort lernte sie Gleichgesinnte kennen, die nach Wegen suchten, um aus der DDR zu fliehen. So auch der Zahnarzt Bernd Ludwig, den Marita Ulbricht gut kannte und zu dem sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte.

Ludwig war im Frühjahr 1981 die Flucht in den Westen geglückt. Knapp zwei Monate später, um Pfingsten herum, rief der frischgebackene Westler Ludwig Frau Ulbricht an. "Er tat ganz aufgebracht. Was ist denn eigentlich los?, fing er an. Ich höre gar nichts mehr von dir. Willst du den Mantel jetzt haben oder nicht? Und da habe ich gesagt: Natürlich! Ja. Ich habe den im Katalog gesehen und wenn du ihn mir schickst, würde ich mich sehr freuen. Das Geld bekommst du natürlich. Das ist gar kein Problem. Daraufhin er: Nun gut. Ich kümmere mich drum. Aber ich habe jetzt wenig Zeit. Bumm! Und aufgelegt." Marita Ulbricht war gleich klar, worum es ging. "Ich wusste sofort, als er von dem Mantel anfing, was Sache ist. Ich wollte ja nie einen Mantel haben." Endlich tat sich eine Chance zur Flucht auf.

Zuhause fing Marita Ulbricht sogleich an, erste Vorkehrungen zu treffen. Sie verbrannte alle Briefe, Briefumschläge und Adresshefte, um der Stasi keine Hinweise auf Kontakte und Beziehungen zu hinterlassen. Dann hieß es warten und mit niemandem darüber sprechen.

Schließlich kam der Anruf eines Unbekannten. Er bestellte Marita Ulbricht zum Virchowdenkmal in der Nähe der Charité. Dort tauchte ein Mann auf, der sie über die Schulter von hinten ansprach. "Schönen Gruß von Bernd [Ludwig]. Es geht los. Sind sie dabei? Ja oder nein." Ohne Zögern sagte Marita Ulbricht ja. "In dem Moment ist doch alles egal. Entweder Sie steigen drauf ein oder sie lassen es sein. Wenn Sie nach Namen fragen, dann können Sie die ganze Sache vergessen. Dann geht der weg und Sie hören nie wieder was von dem. Natürlich hätte das ein Stasi-Mann sein können. Aber in dem Augenblick gibt es keine Diskussion. Das ist eine ganz klare Frage und die haben Sie zu beantworten. Mit ja oder nein."

Nach ihrer Zustimmung erklärte der Mann noch, sie solle eine weiße Plastiktüte als Erkennungszeichen und für die Papiere, Zeugnisse und dergleichen organisieren. Mehr nicht. Sie werde dann von ihm hören. Am entsprechenden Abend solle sie bis 19:00 Uhr in der Wohnung bleiben, falls irgendetwas schiefgehe und man die ganze Aktion absagen müsse. Der unbekannte Mann am Virchowdenkmal war Paul S., Zahnarzt aus Königs Wusterhausen bei Berlin. Das erfuhr Marita Ulbricht aber erst Jahre später.

Marita Ulbricht hatte zwar Jahre vorher mit Gleichgesinnten an der Charité über die Fluchtabsicht gesprochen, aber niemals über irgendwelche Details. "Halten Sie mich für blöd? Wer quatscht, der müsste hinterher noch Prügel bekommen. Das geht niemanden etwas an. Auch nicht die Familie. Da gibt es für mich gar keine Diskussion."

Bei Marita Ulbricht wurde die erste Schleusung kurzfristig abgesagt. Den Grund erfuhr sie nie. Auch die Stasiakten liefern keinen Hinweis.

Der zweite Versuch wurde auf den 26. September 1981 gelegt. Sie traf sich mit Paul S., dem Mann von Virchowdenkmal, der ebenfalls in den Westen wollte. Er nahm sie in seinem Auto mit. In der Bödikerstraße ließen sie das Auto stehen und liefen die letzten paar Meter zum Treffpunkt am Bahnhof Ostkreuz. Den Treffpunkt gibt es heute nicht mehr. Die Straße, die Böschung und die Backsteintreppe, die Ulbricht im Interview schildert, sind längst Modernisierungsarbeiten gewichen.

Das Treffen war auf 21:30 Uhr angesetzt. "Es war fast ganz dunkel. Und dann kam da komischerweise ein Lkw. Der fuhr ganz langsam. Der Fahrer hatte den Arm aus dem Fenster hängen und schaute uns neugierig an. Nachher, als es schiefgegangen ist, dachte ich, das war die Stasi. Die wollten sich vergewissern, ob wir wirklich da sind. Der Stüber sagte, als der Lkw wieder weg war: 'Wo bleibt denn der Fahrer?'"

Dann ging alles ganz schnell. "Der Mercedes kam angefahren. Der Fahrer stieg aus und fragte uns, wo wir hin wollen. Paul S. sagte: 'Zum Tierpark.' Kofferraumklappe auf, ich rein, der S. rein, Deckel zu und weiter."

Nach etwas mehr als zehnminütiger Fahrt bemerkte Marita Ulbricht, dass das Auto sehr lange stand. Als das Auto schließlich wieder anfuhr, fuhr es statt in Schlangenlinien durch die Schikanen Richtung Westen scharf nach links. "Dann hörte ich das Rumpeln wie von einer großen Tür. Da wusste ich: Das war's jetzt. Jetzt haben sie uns. Aber ich hatte keine Angst. Ich habe immer gedacht, entweder es geht gut oder eben nicht. Ich bin ein harter Hund."

Marita Ulbricht wurde zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Nach 14 Monaten konnte sie die DDR mit 15 anderen Häftlingen verlassen. Sie war von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft worden. Den Schmuck, der ihr bei der Verhaftung von den Sicherheitsbehörden der DDR abgenommen wurde, sah sie nie wieder. Aber in den 1990er Jahren erhielt sie von der Bundesrepublik Deutschland eine Entschädigung in Höhe von 2500 DM. Das Geld hat Marita Ulbricht dem Förderverein Berliner Stadtschloss gespendet.

Marita Ulbricht machte bis 2015 wöchentlich Führungen in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Sie ist im Januar 2021 verstorben.

© Rodion Ebbighausen 2021